Auf Ellernklipp
Martin erzählt
Ich weiß jetzt, Vater, dass du uns damals belauscht hast. Und ich habe Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Und indem ich mich das frage, fange ich an, dich kennen zu lernen.
Du bist kein schlechter Mensch. Oder – zumindest glaubst du das von dir. Du bist ein ehrlicher Mensch, gerade und gerecht. – …. oder ich weiß nicht, vielleicht ist das auch nur dein Glaube an dich mit dem ich eben aufgewachsen bin. Vielleicht bist du ja doch ganz anders. Aber ich bin mir sicher, dass du – nach den belauschten Augenblicken – zuerst spazieren gegangen bist, vielleicht zur Sägemühle, und dich dort auf einen Stoß Bretter gesetzt hast und dir gesagt hast:
„Nichts. Nichts! Was ist denn geschehen? Sie lieben sich! Und warum sollten sie nicht? Bloß um deshalb nicht, weil ich ein Narr war und einen närrischen Plan hatte? Bloß um deshalb nicht, weil sie Bruder und Schwester sein sollen? Es ist ihr gutes Recht. Liebe steckt im Blut und muss auch Heimlichkeiten haben; das ist ihr Liebstes und Süßestes…“
Und dann – Vater – ich kenne dich doch recht gut: Du sagst dir das Gute und Rechte vor, und wenn du dich dann vergewissert hast, dass du ja alles richtig und gerecht siehst, dann kommt DAS in dich und ergreift Besitz von dir, wovor ich mich mein Leben lang gefürchtet habe. Es ist dein Zorn, ein fast heiliger, unerklärlicher Zorn – eben d e i n Zorn. Und dann weiß niemand, was du tust. Du weißt es selbst nicht.
Aber dein Zorn hatte noch ein anderes Gefühl bei sich, ein Gefühl, dass du nicht kanntest und dass dich hilflos machte: Eifersucht. Du hast dich geschämt, du hast dich auch selbst beschuldigt und dir gesagt: ich hab sie belauscht, ich hab es wissen wollen – nun weiß ich’s!
Aber du bist nicht der Mann kalten Blutes. Und während du da so gesessen hast, an der Sägemühle und wie das Sägewerk mit seinem scharfen schrillen Ton da immer auf und ab ging und einen eingespannten Baumstamm schnitt, da war dir zumute, als zerschnitt die Säge dich selbst.
Und das war dir neu. Aber wohin?! Das Bedürfnis, sich mit jemandem aussprechen zu müssen, eine Bedrückung zu teilen, ein Vertrauen, ein Anlehnen, eine Zuwendung zu brauchen, dass dir jemand die Hand reiche, dass dich jemand – vielleicht auch das –in den Arm nähme… – das wolltest du nicht. So etwas brauchtest du nie, warst immer stark und hart in deinem Leben, hast diejenigen verachtet, die sich da Rat und Beistand holen wollten bei Freunden, dem Pastor oder Gott.
Wohin also!? – Zu Sörgel? Zu Melcher? Stolz bist du, Papa, willst dir von niemand in die Seele schauen lassen. Und bist zu den Toten gegangen, zu Mama, über die wir nicht mehr gesprochen haben, seit wir sie beerdigt hatten und seit die Hilde bei uns im Haus war. Und hast die Levkojen und Reseda gesehen auf dem Grab der Mama und waren es dieselben Blumen, die Hilde dir in die Geburtstagsgirlande geflochten hatte, und wieder war die Hilde neben dir und konntest sie nicht vergessen, nicht der Mutter Grab sahst du, sondern wieder nur Hilde mit ihrem lieben Gesicht, so unschuldig, nichts wissend, alles verheißend.
Warum denken wir eigentlich, dass uns Frauen retten können?
Ich kann spüren, Vater, wie die Verzweiflung wuchs in dir. Was konntest du tun? Dich der Grissel anvertrauen? Beichten? Ha – nicht schon wieder den Weg der Schwäche, schließlich: warum auch! – was hast du denn getan? – nichts! Es ist eher so, dass d i r ein Leid getan ist, weshalb du leiden musst und nicht ein noch aus weißt. Und so lässt du es wachsen in deinem Herzen, den Zorn und die Eifersucht, und je stärker sie werden, das ist so; kommt ein Gefühl der Süße hinzu. Und wie eine Welle nimmt es dich mit, der lustvolle Schmerz um die Hilde, und lässt es dich ganz ausfüllen und kappst das letzte Seil, dass dein Boot am Ufer hält und treibst hinaus auf das Meer, in den Sturm, in den Tod ….
Weißt du noch, Papa, was Sörgel gesagt hat neulich bei seiner Predigt? Und wie du uns immer ermahnt hast, jener Worte stets zu gedenken?! – : Wenn wir meinen, die Besinnung zu verlieren, dann sollen wir uns fragen, was das N ä c h s t l i e g e n d e ist. Und wenn das entschieden ist, so sollen wir’s TUN als unsere nächstliegende Pflicht. Denn: im Gefühl erfüllter Pflicht liegt was Befreiendes… – Was wäre nun dein „Nächstliegendes“ gewesen? Was deine nächstliegende Pflicht? VATER zu sein. Wenn nicht ein liebender, so doch ein segnender…?
Oh Papa, wärst du mir doch ein Vater gewesen! Gab es Momente, wo nur wir beide allein waren? Wo du länger zu mir gesprochen hast, als: mach dies, Junge, hol das, Junge, sei gescheit, Junge, vergiss nicht … Gab es so etwas wie u n s e r e Momente? Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich nicht erinnern, deine Hand jemals auf meiner Schulter gespürt zu haben, anerkennend, lobend, wie es ein Sohn eben braucht, von seinem Vater einmal gelobt zu werden. Deine Hand nicht – und dein Aug auch nicht. Es ging über mich hinweg und wenn wir uns begegneten, hast du dich abgewandt. Scheu, eilig, fast ängstlich. Warum eigentlich? Hast du mich verachtet? War ich so ein schlechter Sohn für dich? Vater?
Und nun – ? Du neidest mir die Hilde, haha! Du neidest mir das schöne, müde Geschöpf – und du weißt das auch. Ich hab sie und du nicht. Ist das meine Rache? Meine Rache an dir für all die Angst meiner Kindheit und die Verachtung, die du für mich hattest? Weißt du eigentlich, wie du mir im Traum erscheinst? Groß, finster, trüb, wie ein Dämon. Mit riesigen Füßen und ich habe Angst, dass du mich zertrittst. Und dann wechsele ich im Traum die Bilder, weil ich sonst ersticke, und sehe die Hilde und meine Liebe zu ihr in den Zeiten der Wiesen, am Bach, auf dem Eis. All mein Glück war die Hilde.
Ja, so ist es wohl. Ich bin glücklich. Du nicht. Ach Papa.
Als wir uns dann endlich trafen, auf Ellernklipp, kurz vor Diegels Mühle, da waren wir beide erschrocken – weiß du noch? Und weißt du auch, woher ich kam? Ja, ich hatte die Holzhauer gesprochen, denn das war meine tägliche Arbeit. Aber ja, a u c h ja, Vater, ich kam von Hilde. Und es war das erste Mal, dass wir uns spürten, dass wir uns küssten nicht wie Kinder, dass ich mich getraute, ihre Müdigkeit zu berühren, sie zu streicheln, sie zu entdecken – und sie hat die Augen geschlossen und mich gewähren lassen.
Ich weiß gar nicht, Vater – kennst du dieses Glück? Dieses Glück für einen Jungen? Nein, ich bin noch kein Mann, ich weiß das, ich bin ein Junge. Aber nach der ersten Zärtlichkeit, da wächst man in den Himmel.
Da standen wir nun – du und ich auf Ellernklipp. Der Abendhimmel rot, die schrägliegende Tanne wie ein unheimlicher Schattenriss davor. Rechts die Klippe, links der Abgrund. Und am Abgrund hin nur ein paar Steine.
Und wir waren beide erschrocken. Ich spürte deine Kälte, deine Wut. ‚Guten Abend‘ hast du zu mir gesagt, so frostig, so abweisend. Was hab ich dir getan? ‚Wo kommst du her‘ – hast du mich gefragt.
‚Von den Holzknechten. Ich hab ihnen den Wochenlohn gezahlt.‘
„Und bist sonst keinem begegnet?“
„Nein.“
„Auch der Hilde nicht?“
„Nein.“
„Und weißt auch nichts von ihr?“
„Ich denke, sie wird zu Haus sein oder bei dem Melcher Harms oben auf den Sieben Morgen…“ Und das war gelogen…
Und dann hast du mich gepackt. Ich sah Blitze in deinen Augen.
„Oder auf Kunerts Kamp! Oder bei der Muthe Rochussen Haus! Oder bei den roten Beeren! Wo hast du sie? Wo ist sie?“
„Lass mich los Vater!“
„Antworte, Bursche!“
„Ich weiß es nicht! Ich bin ihr nicht zum Vormund gesetzt! Ich bin nicht ihr Hüter!“
„Nein! Ihr Hüter bist du nicht! Aber ich will dir sagen, was du bist: ein Räuber, ein Dieb! Und ich will dir sagen, WO du bist: auf verbotener Fährte! Heraus mit der Sprache: wo hast du sie? Und lüge nicht!“
„Ich lüge nicht!“
„Doch, doch! Lump, der du bist.“
Und dann: Vater! – wir beide rangen miteinander, wir kämpften! Sollte d a s der Moment sein, u n s e r Moment, der Moment, den ich mir mit meinem Vater wünschte?! Wie mit einem Gleichaltrigen auf dem Schulplatz zu raufen? Wo war deine Würde, Papa! Weißt du, wie erschrocken ich war! Wie bestürzt! Wie aller Schrecken mir in die Glieder fuhr, weil ich ja erst nur erahnen konnte, was in dir war, was dich so verletzt, so wütend, so erniedrigt hatte… ich war erschrocken, ich kann dir nicht sagen, wie!
Und dann – oh wie schämte ich mich dafür: ich war der Stärkere geworden! Du warst auf den Kiennadeln ausgeglitten und nahe am Abgrund niedergestürzt. Es war schrecklich, dich in dieser demütigenden Lage zu sehen. Vater! Komm zu dir! Bitte, bitte, mein Vater – hier, nimm meine Hand, steh auf, lass uns nach Hause gehen, gib mir deine Hand, ich halte dich, ich bin dein Sohn…!!
Weißt du noch, was du gesagt hast?! Ich trau mich gar nicht, es zu wiederholen. Weil du dich selbst beschrieben hast…. Vater, wie konntest du nur?! ‚Der Teufel ist dein Vater’ – hast du mir zugerufen.
Bocholt
„Der Teufel ist dein Vater… der Teufel ist dein Vater… der Teufel ist … dein Vater…“
Und hast meine Hand gefasst und mir gegen die Knie gestoßen und mich mit einem Ruck über dich hinweggezogen und ich habe mich überschlagen und stürzte mit ein paar Steinen in die Tiefe.
Und das war mein letztes Bild im Leben: im Fallen du oben auf der Klippe mir nachsehend. Und über dir der Vollmond, einen blutrote Scheibe.
Immer hab ich gewusst, dass ich dir nicht viel bedeutet habe. Aber was ich nicht wusste: dass ich dir GAR NICHTS bedeutet habe. Das darf nicht sein. Vater? Ich bin dein Sohn! Hörst du mich? Vater? Vater! Vater!!!